12. Sonntag nach Trinitatis 2020

  • Eröffnung

Was trägt uns in unserem Leben? Was ist unser Fundament?

Am 12. Sonntag nach Trinitatis nimmt uns ein Text des Apostels Paulus mitten hinein in diese Fragen.

  • Ein Lied: „Ich steh vor dir mit leeren Händen Herr“ (EG 382)


Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr;
fremd wie dein Name sind mir deine Wege.
Seit Menschen leben, rufen sie nach Gott;
mein Los ist Tod, hast du nicht andern Segen?
Bist du der Gott. der Zukunft mir verheißt?
Ich möchte glauben, komm mir doch entgegen.

Von Zweifeln ist mein Leben übermannt,
mein Unvermögen hält mich ganz gefangen.
Hast du mit Namen mich in deine Hand,
in dein Erbarmen fest mich eingeschrieben?
Nimmst du mich auf in dein gelobtes Land?
Werd ich dich noch mit neuen Augen sehen?

Sprich du das Wort, das tröstet und befreit
und das mich führt in deinen großen Frieden.
Schließ auf das Land, das keine Grenzen kennt,
und laß mich unter deinen Söhnen leben.
Sei du mein täglich Brot, so wahr du lebst.
Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete.

  • Psalm 147

1 Halleluja!
Lobet den HERRN! /
Denn unsern Gott loben, das ist ein köstlich Ding,
ihn loben ist lieblich und schön.
2 Der HERR baut Jerusalem auf
und bringt zusammen die Verstreuten Israels.
3 Er heilt, die zerbrochenen Herzens sind,
und verbindet ihre Wunden.
4 Er zählt die Sterne
und nennt sie alle mit Namen.
5 Unser Herr ist groß und von großer Kraft,
und unbegreiflich ist, wie er regiert.
6 Der HERR richtet die Elenden auf
und stößt die Gottlosen zu Boden.
7 Singt dem HERRN ein Danklied
und lobt unsern Gott mit Harfen,
8 der den Himmel mit Wolken bedeckt /
und Regen gibt auf Erden;
der Gras auf den Bergen wachsen lässt,
9 der dem Vieh sein Futter gibt,
den jungen Raben, die zu ihm rufen.
10 Er hat keine Freude an der Stärke des Rosses
und kein Gefallen an den Schenkeln des Mannes.
11 Der HERR hat Gefallen an denen,
die ihn fürchten,
die auf seine Güte hoffen.
12 Preise, Jerusalem, den HERRN;
lobe, Zion, deinen Gott!
13 Denn er macht fest die Riegel deiner Tore
und segnet deine Kinder in deiner Mitte.
14 Er schafft deinen Grenzen Frieden
und sättigt dich mit dem besten Weizen.
15 Er sendet sein Gebot auf die Erde,
sein Wort läuft schnell.
16 Er gibt Schnee wie Wolle,
er streut Reif wie Asche.
17 Er wirft seine Schloßen herab wie Brocken;
wer kann bleiben vor seinem Frost?
18 Er sendet sein Wort, da schmilzt der Schnee;
er lässt seinen Wind wehen, da taut es.
19 Er verkündigt Jakob sein Wort,
Israel seine Gebote und sein Recht.
20 So hat er an keinem Volk getan;
sein Recht kennen sie nicht.
Halleluja!

  • Worte aus dem ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther, Kap. 3

Denn wir sind Gottes Mitarbeiter; ihr seid Gottes Ackerfeld und Gottes Bau. Nach Gottes Gnade, die mir gegeben ist, habe ich den Grund gelegt als ein weiser Baumeister; ein anderer baut darauf. Ein jeder aber sehe zu, wie er darauf baut.

Einen andern Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.

Wenn aber jemand auf den Grund baut Gold, Silber, Edelsteine, Holz, Heu, Stroh, so wird das Werk eines jeden offenbar werden. Der Tag des Gerichts wird es ans Licht bringen; denn mit Feuer wird er sich offenbaren. Und von welcher Art eines jeden Werk ist, wird das Feuer erweisen.

 Wird jemandes Werk bleiben, das er darauf gebaut hat, so wird er Lohn empfangen. Wird aber jemandes Werk verbrennen, so wird er Schaden leiden; er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durchs Feuer hindurch.

  • Gedanken zum Text

(I: Paulus)

Paulus diktiert den Brief einem Schreiber. Das angespitzte Schilfrohr graviert die rußschwarze Tinte auf die Papyrusrolle.

Keine Whatsapp-Nachricht und keine E-Mail, die im digitalen Rauschen schnell wieder verschwindet. Ein Brief mit Worten, auf die es ankommt.

Denn die Gemeinde liegt im Streit. Neue Lehrer und selbsternannte Prediger treten auf. Die Reichen und Vermögenden wollen unter sich bleiben, nicht mehr mit den Anderen Abendmahl feiern. Jeder will seine eigene Gemeinde bauen.

Paulus kennt und liebt die Christen in Korinth: „Ich danke meinem Gott allezeit euretwegen“ schreibt er ihnen gleich zu Anfang des Briefs. „Unter Euch gibt es keinen Mangel an irgendeiner Gabe.“

Er hat die Gemeinde gegründet, den Grund gelegt.

Er ruft sich ihnen in Erinnerung als Baumeister.

Er hat ihnen von Jesus erzählt, seinem Schicksal am Kreuz.

Und von Ostern.

Er hat mit ihnen zu Tisch gesessen. Ihre Geschichten angehört.

Hat Freude und Leid mit ihnen geteilt. Alte und Kranke besucht.

Hat sie alle zusammengebracht in den Häusern.

„Ihr seid Gottes Ackerfeld und Gottes Bau.“

Doch jetzt steht alles auf dem Spiel.

Und Paulus ist nicht mehr vor Ort. Kann nicht eingreifen.

Er hat nur den Brief. Deshalb kommt es auf jedes Wort an.

Paulus ringt um die Worte. Und das angespitzte Schilfrohr des Schreibers graviert sie mit rußschwarzer Tinte auf die Papyrusrolle.

Sie werden in Korinth verlesen. Sie überdauern die Jahrhunderte.

Heute treffen sie auf uns.

(II: Der Tag des Gerichts mitten im Leben)

Der Tag des Gerichts wird es ans Licht bringen, schreibt Paulus.

Dieser Satz hat große Wucht. Eines Tages wird ans Licht kommen, worauf ihr gebaut habt. Worauf ihr gesetzt habt in eurem Leben.

Was euch trägt. Am Ende eurer Tage.

Oder: mitten im Leben.

Station 1C im Krankenhaus St. Elisabeth und St. Barbara.

An diesen Ort kann ich nichts mitnehmen.
Aber was würde es auch nützen?

Durch Plexiglas schaue ich auf das kleine Menschlein, das da im Wärmebett liegt und ums Überleben kämpft. 

Mit leeren Händen stehe ich da.

Wer bin ich hier an diesem Ort, vor diesem zerbrechlichen Kind?
Was habe ich vorzubringen, anzubieten?

Hilflos und ratlos, ja nackt fühle ich mich.

Der Boden schwankt mir unter den Füßen.

Kein Theologie-Diplom, keine Bücherwand,

kein Bankkonto vermag mir hier Halt zu geben. Alles nur Stroh.

Ich setze mich auf einen kalten Stuhl und blicke auf den zarten Körper.

Da kommt mir ein längst vergessenes Lied in den Sinn.
Ein Edelstein aus Kindertage.

Leise und verlegen stimme ich es an:

„Breit aus die Flügel beide, oh Jesu meine Freude.
Dies Kind soll unverletzet sein.“

Der Tag des Gerichts wird es ans Licht bringen, schreibt Paulus.

Was hat Bestand und was trägt uns in unserem Leben?

(III. Jüngstes Gericht)

Der Tag des Gerichts wird es ans Licht bringen.

Oh Paulus. Wenn Du wüsstest, was aus deinen Worten wurde!

Im Laufe der Jahrhunderte verselbstständigten sie sich.

Wurden aus dem Zusammenhang gerissen.
Theologen und Kirchenmänner vergriffen sich an ihnen.

Sie nahmen dich nicht bei den Wörtern, Paulus.
Sie nahmen dich nur bei einem Wort.

Sie vergaßen oder wollten vergessen, dass Gott im Gericht kein anderer ist als der Gott der Liebe, von dem du an anderer Stelle schreibst, dass er sich „aller erbarmt“. Dass er treu ist in seiner Gnade.

Und dass er uns allen ein Fundament unter die Füße getan hat,
das unerschütterlich ist, selbst dann, wenn wir es nicht spüren.

Aber einige meinten, ihre eigene Sehnsucht nach Vergeltung,
nach Zucht und Ordnung auf Gott übertragen zu können.

Sie malten das Gespenst der Beliebigkeit an die Wand.

Sie richteten Scheiterhaufen auf für Ketzer und Hexen.

Sie machten aus deinem Bild vom Tag des Gerichts,
der mit Feuer kommt, schreckliche, selbstgemachte Wirklichkeit.

Paulus, wie lauten deine Worte?

„Richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt.“
So schreibst du doch wenige Sätze später.
Das Richten ist Gottes Sache allein!
Keiner kann und darf sich über andere zum Richter aufspielen.
War das nicht deutlich genug?

Paulus, wie lauten deine Worte?

„Wird aber jemandes Werk verbrennen, so wird er Schaden leiden;
er selbst aber wird gerettet werden“.
Rettung steht am Ende, nicht Hölle oder Fegefeuer!

Oh Paulus, wie lauten deine Worte?

„Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“

Selbst dann, wenn sich all unser Tun im Leben als Strohfeuer erweist. Die Grundmauern sind unzerstörbar.

Und wenn wir Christus den Retter der Welt nennen,
dann werden doch eher alle Menschen gerettet,
als dass auch nur eine Seele verloren geht. Oder?

Paulus, wie lauten deine Worte?

Von Belohnung und Strafe schreibst du nichts.

Sondern von Lohn und Schaden. Das ist etwas anderes.

Es geht um die natürlichen Folgen dessen, was wir tun.

Ja: Nicht alles, worauf wir setzen, woran wir unser Herz hängen,
trägt uns wirklich. Und das zeigt sich, wenn wir in Feuerproben geraten. Und wir werden unsere Spuren davontragen.
„Wie durchs Feuer hindurch.“ Aber das genügt.

Es geht nicht um zusätzliche Strafen, nicht um zusätzliche Sanktionen, wie sie in Bußkatalogen stehen.
Oder wie wir sie Kindern mit „wenn-dann“-Sätzen androhen,
wenn wir nicht mehr weiter wissen.

Oh Paulus. Wenn du wüsstest, was aus Deinen Worten geworden ist.

(VI. Verborgene Werke)

Der Tag des Gerichts wird es ans Licht bringen, schreibt Paulus.

Sanft streichle ich ihr über den Kopf. Gleich ist sie eingeschlafen.

Was wird sie mir sagen, meine Tochter, wenn sie groß ist?
Was waren meine Werke aus Gold, Silber und Edelstein an ihr?
Und was die Werke aus Holz, Heu und Stroh, die nicht bestehen werden, wenn sie in Feuerproben gerät in ihrem Leben?

Das bunte Klettergerüst mit der Rutsche dran in ihrem neuen Zimmer, das ihr so große Freude macht?

Meine innere Ungeduld, wenn ich auf dem Spielplatz schon wieder an den morgigen Arbeitstag denke?

Die Vollkornnudeln mit Tomatensoße,
die ich ihr koche, und die sie so gerne mag?

Das abendliche Herumalbern im Kinderzimmer?

Der Kindergarten, die Schule, die ich für sie auswähle?

Sicher bin ich mir nie. Ich hoffe, dass sie Bleibendes mitbekommt, solange ich sie begleiten und umsorgen darf. Auf dass sie keinen Schaden nimmt. Aber wissen kann ich es nicht. Und wer weiß. Vielleicht sind es am Ende die unbemerkten, verborgenen Dinge, die erst später ans Licht kommen, die sie tragen werden. Wie ein altes Gutenacht-Lied, gesungen jetzt schon in alltäglicher Routine, zum Einschlafen. „Breit aus die Flügel beide, oh Jesu meine Freude. Dies Kind soll unverletzet sein.“

(V. Gottes Bau)

Der Tag des Gerichts wird es ans Licht bringen, schreibt Paulus. Das angespitzte Schilfrohr des Schreibers brachte sie auf die Papyrusrolle. Die Gemeinde in Korinth hat sie gehört. Heute treffen sie auf uns.

„Ihr seid Gottes Ackerfeld und Gottes Bau. […]. Ein jeder aber sehe zu, wie er darauf baut.“

Na dann los, liebe Gemeinde, Bauen wir daran weiter.

In unserm Leben und hier, im Süden unserer Stadt.

Bauen wir weiter mit Mut und Zuversicht.

Freilich, manches von dem, was wir bauen, wird nicht bleiben und tragen. Mancher Edelstein wird sich als Stroh erweisen.
Aber zu Kleinmut und Verzagtheit gibt es keinen Grund.

Denn wir stehen auf felsenfestem Fundament.

„Einen anderen Grund kann niemand legen, als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“

Dieser Grund trägt uns alle.

Er hält all unsere Unterschiedlichkeiten aus.

Wir müssen ihn nicht selber legen und erhalten.

Wir können auf ihm weiterbauen und etwas wagen.

„Die Gnade des Herrn Jesus sei mit euch!“ schreibt Paulus am Ende an die Gemeinde in Korinth.

Die Gnade des Herrn Jesus sei auch mit Euch, liebe Luthergemeinde, hier in Halle. Amen.

  • Ein Gebet miteinander und füreinander

Jesus Christus, du bist der Grund des Lebens.
Du sorgst dich,
du zerbrichst das geknickte Rohr nicht.
Wir bitten dich für alle,
die unter Schmerzen leiden,
die Abschied nehmen und trauern.
Wir bitten dich für die, die geknickt sind
und keine Kraft mehr haben.
Jesus Christus, du tröstest,
du heilst, du rettest.
Tröste, heile, rette deine Menschen.
Erbarme dich.

Jesus Christus, du bist der Grund der Gerechtigkeit.
Du trägst das Recht in die Welt,
du löschst den glimmenden Docht nicht.
Wir bitten dich für alle,
die der Gerechtigkeit dienen.
Wir bitten dich für alle,
die zwischen Feinden vermitteln und
die mit Mut Gewaltherrschern entgegentreten.
Jesus Christus, du mahnst,
du versöhnst, du befreist.
Mahne, versöhne, befreie deine Menschen.
Erbarme dich.

Jesus Christus, du bist der Grund unseres Glaubens.
Du weckst in uns die Liebe
und schenkst uns deinen Heiligen Geist.
Wir bitten dich für deine weltweite Kirche,
für die Menschen, die sich nach deinem Wort sehnen.
Wir bitten dich
für die Enttäuschten und Zurückgewiesenen.
Jesus Christus, du sprichst,
du ermutigst du begeisterst.
Sprich, ermutige und begeistere deine Menschen.
Jesus Christus, du Grund unseres Lebens und Grund der Welt,
dir vertrauen wir uns an.
Höre unser Gebet.

Amen.

  • Segen (nach 5. Buch Mose 31,6)

Seid mutig und stark!
Habt keine Angst, und lasst euch nicht von ihnen einschüchtern!
Der Herr, euer Gott, geht mit euch.
Er hält immer zu euch und lässt euch nicht im Stich! Amen.

(Pfarrer Dr. Georg Bucher)

11. Sonntag nach Trinitatis 2020

  • Eröffnung

„Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade“, heißt es im 1. Petrusbrief. Falscher Hochmut, aber auch falsche Demut schleichen sich schnell in den Alltag ein. Einige Gedanken, die das Begehren umschreiben, sich über andere zu erheben oder sich kleiner zu machen als nötig, begleiten diese Andacht.

  • Ein Lied: Aus tiefer Not schrei ich zu dir (EG 299,1.4.5)

1) Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott, erhör mein Rufen.
Dein gnädig Ohr neig her zu mir und meiner Bitt es öffne;
denn so du willst das sehen an,
was Sünd und Unrecht ist getan,
wer kann, Herr, vor dir bleiben?

4) Und ob es währt bis in die Nacht und wieder an den Morgen,
doch soll mein Herz an Gottes Macht verzweifeln nicht noch sorgen.
So tu Israel rechter Art,
der aus dem Geist geboren ward,
und seines Gottes harre.

5) O bei uns ist der Sünden viel, bei Gott ist viel mehr Gnade.
Sein Hand zu helfen hat kein Ziel, wie groß auch sei der Schade.
Er ist allein der gute Hirt,
der Israel erlösen wird
aus seinen Sünden allen.

  • Worte aus Psalm 145

Ich will dich erheben, mein Gott, du König,

und deinen Namen loben immer und ewiglich.

Ich will dich täglich loben
und deinen Namen rühmen immer und ewiglich.

Der Herr hält alle, die da fallen,

und richtet alle auf, die niedergeschlagen sind.

Der Herr ist gerecht in allen seinen Wegen

und gnädig in allen seinen Werken.

Der Herr ist nahe allen, die ihn anrufen,
allen, die ihn mit Ernst anrufen.

Er tut, was die Gottesfürchtigen begehren,
und hört ihr Schreien und hilft ihnen.

Der Herr behütet alle, die ihn lieben,
und wird vertilgen alle Gottlosen.

Mein Mund soll des Herrn Lob verkündigen,
und alles Fleisch lobe seinen heiligen Namen immer und ewiglich.

  • Worte aus dem Lukasevangelium im 18. Kapitel

Jesus sagte aber zu einigen,
die überzeugt waren, fromm und gerecht zu sein,
und verachteten die andern,
dies Gleichnis:
Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten,
der eine ein Pharisäer,
der andere ein Zöllner.
Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst so:
Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner.
Ich faste zweimal in der Woche
und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.
Der Zöllner aber stand ferne,
wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel,
sondern schlug an seine Brust und sprach:
Gott, sei mir Sünder gnädig!
Ich sage euch:
Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener.
Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden;
und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

  • Gedanken zu Lukas 18,9-14

Neben mir hält eine junge Frau im Mercedescabrio. Ich sitze auf meinem Fahrrad. Beide warten wir auf Grün. Ich mache mir so meine Gedanken. Fahrradfahren ist doch viel umweltfreundlicher. Und ich spare mir das Benzin. Und gesünder ist es auch. Soviele Vorteile. Allein der Umstand, dass mein Fahrrad gute 60 Jahre alt ist. Ressourcenschonender geht es kaum. Ich sitze auf meinem Fahrrad und sehe auf die junge Frau herab in ihrem tiefem Autositz. Wenn ich böse wäre, würde ich noch denken: Naja, alleine hat sie das bestimmt nicht bezahlt. Und noch böser: Hoffentlich kriegt sie noch Luft in ihrer Blechkiste. Aber das ist ja Quatsch, ist ja ein Cabrio. Obwohl ich doch mit meiner Entscheidung, Fahrrad zu fahren, zufrieden sein könnte, plagen mich solche Gedanken. Klar ist es gut, mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Aber der hochmütige Gedanke, deshalb auf andere herabzusehen, trägt nicht weit. Ich schaue auf mein Smartphone; und schon ist meine überlegene Moral dahin. Mein Telefon ist noch ziemlich neu. Das letzte ist ins Wasser gefallen. Grob weiß ich, was es kostet, so ein Gerät herzustellen. Nicht nur finanziell, sondern auch der Einsatz an Ressourcen und Arbeitskraft unter schrecklichen Bedingungen. Trotzdem verzichte ich nicht darauf.

Auch der Pharisäer im Evangelium schaut auf den Zöllner herab. Wortreich zählt er seine guten Taten auf. Er ist kein „Räuber, Ungerechter, Ehebrecher, und er ist auch nicht „wie dieser Zöllner.“ Der Zöllner ist so ein Ungerechter. Er erhebt zu hohe Steuern, um neben seinem Auftrag für den römischen Staat in die eigene Tasche zu wirtschaften. Er guckt nur auf sich selbst. Seine Mitmenschen und Gott sind ihm scheinbar nicht wichtig. Der Pharisäer hingegen fastet zweimal in der Woche und gibt den Zehnten von allem, was er einnimmt. Ein guter und frommer Mitmensch ist er, dem die göttlichen und menschlichen Gebote am Herzen liegen. Das steht außer Frage. Jesu Urteil ist aber ebenso deutlich. Das kurze Gebet des Zöllners: Gott, sei mir Sünder gnädig! hat für Jesus mehr Gewicht und göttliche Gerechtigkeit. Die Sünde des Pharisäers besteht darin, dass er auf den Zöllner herabsieht; aber der Zöllner bedenkt sein Fehlverhalten und stellt es vor sich und Gott aus. Er hat keine Möglichkeit, sich über den Pharisäer zu stellen. 

Neben meinen guten Taten zählt vor Gott auch der Umgang mit meinen Mitmenschen. Verführerisch ist das Bestreben, sich aufgrund seiner guten Taten und klugen Gedanken über andere Menschen zu stellen. Neulich lass ich den Tweet des Grünenpolitikers und Mitglieds des Präsidiums des Deutschen Evangelischen Kirchentags  Sven Giegold. „Damit wird die moralische Kraft unseres Kirchenschiffes noch stärker! Ärzte ohne Grenzen kommt als medizinischer Partner an Bord der #SeaWatch4. Dieses Schiff wird Leben retten und Druck für eine politische Lösung machen!“ Ohne Frage ist das eine gute Sache, was in diesem Tweet benannt wird. Das Leben der Flüchtenden auf dem Mittelmeer retten und darauf zu dringen, eine politische Lösung zu finden. Unsere Luthergemeinde ist gerade diesem Thema sehr eng verbunden, seitdem sie sich mit der Hausaufgabenhilfe für jene Menschen einsetzt, die es über das Mittelmeer geschafft haben. Dennoch bleibe ich hängen an der Formulierung: „die moralische Kraft“.  Jeder, der die von der Evangelischen Kirche initiierte Aktion kritisch betrachtet oder sie – aus welchen Gründen auch immer – ablehnt, wird dieser moralischen Kraft unterworfen. Es ist einerseits gut, dass wir unserem diakonischem Auftrag als Kirche nachkommen und über den Tellerrand schauen. Die öffentliche Wirkung dieser zur Schau gestellten „moralischen Kraft“ oder moralischen Überlegenheit andererseits erinnert mich aber auch an den Pharisäer, der sich ebenso moralisch über das fragwürdige Verhalten des Zöllners stellt. In jeder Äußerung der Kirche schwingt die göttliche Autorität mit. Ich frage mich, wie dieses kirchliche Herabsehen auf Menschen wirkt, die dieser Moral nicht genügen. Wie wirkt es auf jene, denen Gott auch wichtig ist, egal wie, und die Rettungsaktion trotzdem nicht gut finden?

Auch meine klugen Worte hier wenden sich an und gegen Menschen, die auf ihre Weise sich für andere Menschen engagieren. Habe ich das Recht, mich über Sven Giegold zu stellen, weil ich so ein kluger Theologe bin?

Jesus stellt den Anspruch an mich, diesen Fragen nicht auszuweichen und mich dennoch für das Gute einzusetzen. Moralische Überlegenheit ist verführerisch. Daran erinnert mich das Evangelium heute.

Amen.

  • Ein Gebet miteinander und füreinander

Du Schöpfergott,
du hast uns gut geschaffen
und uns mit der Fähigkeit ausgestattet,
für unsere Mitmenschen Gutes zu tun.
Bewahre uns in diesem Bestreben
und lenke unsere Gedanken,
dass wir unsere Mitmenschen ebenfalls dazu einladen,
für das Leben einzustehen,
dass du uns geschenkt hast.
Du willst, dass wir unsere Mitmenschen
in unser Herz schließen,
auch wenn es schwerfällt.
Bewahre uns davor, sie von uns wegzustoßen.
Und mache uns unsere eigenen Fehler bewußt.
Darum bitten wir mit den Worten Jesu Christi:

Vater unser im Himmel,
geheiligt werde Dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft
und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.

  • Segen

Es segne und behüte uns der allmächtige und barmherzige
Gott, + Vater, Sohn und Heiliger Geist.
Er bewahre uns vor Unheil und führe uns zum ewigen Leben.
Amen.

(Pfarrer Olaf Wisch)

Ausstellung (Donata Hillger)

Ab sofort ist in der Lutherkirche eine neue Ausstellung zu besichtigen: „Landschaften“ von Donata Hillger.

Führung durch die Ausstellung in der Lutherkirche am Sonnabend, den 10. Oktober, 15 Uhr.

Die Kirche ist täglich von 9.00 bis 18.00 Uhr geöffnet.

10. Sonntag nach Trinitatis 2020

  • Eröffnung

„Höre, Israel, der Herr ist unser Gott“: Unser Gott. Der Gott des Volkes Israel! So beginnt das Schema Israel. Das ist das Grundbekenntnis des Judentums.
Der 10. Sonntag nach Trinitatis ist der Israelsonntag. An ihm geht es um das Verhältnis und die bleibende Verbindung zwischen Christinnen und Jüdinnen, zwischen Christen und Juden.

  • Ein Lied: Was mein Gott will, gescheh allzeit (EG 364)

1. Was mein Gott will, gescheh allzeit, sein Will, der ist der
beste. Zu helfen dem er ist bereit, der an ihn glaubet feste.
Er hilft aus Not, der treue Gott, er tröst´ die Welt ohn
Maßen. Wer Gott vertraut, fest auf ihn baut, den will er
nicht verlassen.

2. Gott ist mein Trost, mein Zuversicht, mein Hoffnung und
mein Leben; was mein Gott will, das mir geschicht, will ich
nicht widerstreben. Sein Wort ist wahr, denn all mein Haar
er selber hat gezählet. Er hüt´ und wacht, stets für uns tracht´,
auf dass uns gar nichts fehlet.

4. Noch eins, Herr, will ich bitten dich, du wirst mir´s nicht
versagen: Wenn mich der böse Geist anficht, lass mich, Herr,
nicht verzagen. Hilf, steu´r und wehr, ach Gott, mein Herr,
zu Ehren deinen Namen. Wer das begehrt, dem wird´s
gewährt. Drauf sprech ich fröhlich Amen.

  • Psalm 122 (Lutherbibel 2017)

Ein Segenswunsch für Jerusalem
Von David, ein Wallfahrtslied.

Ich freute mich über die, die mir sagten: Lasset uns ziehen zum Hause des HERRN!
Nun stehen unsere Füße in deinen Toren, Jerusalem.
Jerusalem ist gebaut als eine Stadt, in der man zusammenkommen soll,
wohin die Stämme hinaufziehen, die Stämme des HERRN, wie es geboten ist dem Volke Israel, zu preisen den Namen des HERRN.
Denn dort stehen Throne zum Gericht, die Throne des Hauses David.
Wünschet Jerusalem Frieden! Es möge wohlgehen denen, die dich lieben!
Es möge Friede sein in deinen Mauern und Glück in deinen Palästen!
Um meiner Brüder und Freunde willen will ich dir Frieden wünschen.
Um des Hauses des HERRN willen, unseres Gottes, will ich dein Bestes suchen.

  • Worte aus dem Brief des Apostels Paulus an die Römer, Kap. 11

Ganz Israel wird gerettet werden

Ich will euch, Brüder und Schwestern, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen ist. Und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser; der wird abwenden alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.«

Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach der Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Denn wie ihr einst Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen.

Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

  • Gedanken zum Text

Noch Spüre ich die Sonne auf meiner Haut und den Wind.
Noch ertappe ich mich dabei, wie ich die Ostsee rauschen höre.
Das Salz des Wassers schmecke. Den warmen Sand zwischen meinen Zehen spüre. Ich bin wieder hier, aber der Urlaub ist noch nicht ganz vorbei.

Und dann reist mich die Vorbereitung auf diesen Gottesdienst heraus.

Der 10. Sonntag nach Trinitatis, den wir heute feiern, ist der Israelsonntag.
An diesem Sonntag geht es um das Verhältnis von Christen und Juden.

Und sofort bin ich in Gedanken bei den schrecklichen Bildern vom Oktober letzten Jahres. Dem versuchten Massenmord an jüdischen Menschen mitten in unserer Stadt. Am höchsten jüdischen Feiertag. Bei Jana und Kevin, denen der Mörder das Leben nahm.

Der Prozess in Magdeburg läuft. Die Prozessbeobachter berichten. Der Täter legt vor Gericht noch einmal seinen Hass und seinen unerträglichen Antisemitismus offen. Er versucht seine Tat mit Worten fortzusetzen. Noch viele Verhandlungstage stehen aus bis zum Urteil. Es ist noch nicht vorbei.

Menschenketten haben wir gebildet in den Tagen danach. Offene Solidarität auf der Straße. Auch ich habe mich eingereiht. Es tat gut zu sehen, wie viele wir waren. Es half, ein wenig mit dem Unfassbaren umzugehen. Etwas zu tun. Ein Licht anzünden. Ein Lied singen. Beieinanderstehen. Vor der Synagoge. In der Ludwig-Wucherer-Straße. Auf dem Marktplatz. Bei Gedenk-Gottesdiensten. In den Fürbitten in den Wochen danach. Und seitdem?

Alles vorbei?

Der Israelsonntag ist für mich mit Scham verbunden. Ganz besonders in diesem Jahr. Ich frage mich als Pfarrer, als Theologe, als Christ:

Wo kommt die Verbundenheit mit dem Judentum zum Ausdruck – das Jahr über? Abseits der Solidaritätsbekundungen und der Lichterketten?

Wo ist die Erinnerung daran, dass Jesus von Nazareth jüdisches Kind einer jüdischen Mutter war, jüdischer Wanderprediger und jüdisches Opfer des römischen Statthalters? Spielt das eine Rolle – in meinem theologischen Nachdenken? In der Christenlehre? Als Thema auf Pfarrkonventen? In der Liturgie am Sonntag? Im Religionsunterricht? Bei meiner Bibellektüre? Wenn ich bete?

Das gleiche gilt für den Apostel Paulus, aus dessen Brief an die Römer der Text für diesen Gottesdienst stammt. Auch er war Jude – und blieb es sein Leben lang. Anders, als die Erzählung von der Wandlung vom „Saulus zum Paulus“ es nahelegt: Er spricht selbst niemals davon, „Christ“ geworden zu sein. Dieses Wort benutzt er gar nicht. Stattdessen betont er an vielen Stellen ausdrücklich, Jude zu sein. Niemals hat er seine Mutterreligion verlassen. Paulus bleibt Jude, sein Leben lang.

Mit voller Leidenschaft aber streitet er dafür, dass zur Gemeinschaft Gottes auch diejenigen dazugehören, die keine Juden sind, und an Jesus Christus glauben. Gottes Liebe kennt eben unterschiedliche Wege. Immer aber ist er Treu – und er bleibt vor allem seinem Bund mit dem jüdischen Volk treu.

Daran lässt der Jude Paulus keinen Zweifel.

Es mag bis heute auch Teil einer narzisstischen Kränkung für uns Christen sein: Wir sind nicht die Ersterwählten. Gottes Liebe zu den Menschen bindet sich nicht exklusiv an Jesus Christus. Die Liebe Gottes zum Volk Israel ist nicht in Christus. Sie ist eine unmittelbare.

Wie können wir damit umgehen? Wie können wir damit umgehen, dass jüdische Menschen Jesus nicht als den Messias anerkennen?

Für Paulus ist die Antwort klar: 

 Ich will euch, Brüder und Schwestern, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen ist.

Israels Großteil lehnt das Evangelium von Jesus Christus ab, damit dieses zu den Völkern kommt. Das ist Teil von Gottes Heils-Plan. Nur so kommt das Evangelium zu uns, den Völkern.

Entscheidend aber ist am Ende die Ermahnung: Die Rettung Israels und die Frage, wie die Völker errettet werden, sind allein Gotte Sache. „Haltet Euch nicht selbst für Klug“, mahnt der Apostel. Spielt Euch nicht selbst zum Richter auf. Spekuliert nicht herum. Bleibt bescheiden, dankbar und demütig. Verlasst Euch aber voll darauf:

Ganz Israel wird gerettet werden. Ja, mehr noch:

Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

Machen wir uns also keine Sorgen. Weder um unser Heil, unsere Rettung, noch um die Israels. Vertrauen wir auf Gottes Treue. Vertrauen wir auf Gottes liebe.

Dann müssen wir uns nicht für klug halten und uns im Spekulieren ergehen.

Dann sind wir frei, uns unseren Ängsten zu stellen. Unseren Kränkungen. Und dann müssen wir keine Angst haben, etwas falsch zu machen.

Frei und offen können wir aufeinander zugehen. Auch auf unsere jüdischen Mitmenschen. Und sie fragen: Wie ist das für Euch, in diesen Tagen des Prozesses? Wie hat sich Euer Gemeindeleben verändert seit dem 09. Oktober 2019? Gibt es etwas, dass ihr von uns erwartet? Gibt es etwas, das wir für euch tun können?

Dann können wir uns frei und offen auf die Suche machen. Auf die Suche danach, was es heißt, dass Paulus und Jesus Juden waren. Welche Implikationen das hat – für unseren Glauben. Für unsere Gottesdienste. Für unser Gebet.

Dann ist nichts einfach vorbei. Dann geht es erst los.

Amen.

  • Ein Gebet miteinander und füreinander

(Wochengebet der VELKD zum Israelsonntag; Quelle: https://www.velkd.de/gottesdienst/wochengebet.php)

Du Gott des Lebens,
Israels Retter und treuer Freund.
Du Gott der Liebe,
Maßstab der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit.
Wir beten dich an –
so taten es unsere Mütter und Väter,
so tut es dein Israel.

Du Gott des Lebens,
du bist treu –
so bleib den Menschen treu, die in Angst sind:
denen, die sich davor fürchten, sich anzustecken,
denen, die von den letzten Monaten gezeichnet sind,
denen, die sich vor dem nächsten Tag, der nächsten Woche,
den nächsten Monaten fürchten.
Treuer Gott: Hilf
und erbarme dich.

Du Gott des Lebens,
du bist gerecht –
so verhilf den Menschen zur Gerechtigkeit,
denen das Recht verweigert wird:
denen, die in Diktaturen leben,
denen, die aufbegehren,
denen, die im Elend allein gelassen werden.
Gerechter Gott: Hilf
und erbarme dich.

Du Gott des Lebens,
du hast wahren Trost –
so trockne die Tränen der Trauernden,
schließe die Sterbenden in deine Arme,
heile die verletzte Schöpfung.
Ewiger Gott: Hilf
und erbarme dich.

Du Gott des Lebens,
du Gott Israels,
du unser Gott,
dein Wort ist unser Ursprung,
unsere Gegenwart,
unsere Zukunft.
Sprich zu uns.
Sprich zu Israel.
Heute, morgen und alle Tage.
Dir vertrauen wir uns an
durch Jesus Christus.

Amen.

  • Segen (nach 5. Buch Mose 31,6)

Seid mutig und stark!
Habt keine Angst, und lasst euch nicht von ihnen einschüchtern!
Der Herr, euer Gott, geht mit euch.
Er hält immer zu euch und lässt euch nicht im Stich!

Amen.

(Pfarrer Dr. Georg Bucher)

9. Sonntag nach Trinitatis 2020

  • Eröffnung

„Du hast den Menschen wenig niedriger gemacht als Gott“, heißt es im Psalm 8. Diese Zuversicht und Einsicht umschreibt die Fähigkeiten ebenso wie die Ansprüche, die Gott an uns stellt. Das kann mein Zutrauen stärken aber ebenso auch schwächen. So gehe ich durch diese Tage meines Lebens und frage mich jeden Tag aufs Neue. Wo hat dich Gott hingestellt und welche Stärken hat er dir mitgegeben für diesen Tag.

  • Ein Lied: Meine enge Grenzen (EGE 12)

1. Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht bringe ich vor dich. ||: Wandle sie in Weite, Herr, erbarme dich. :||

2. Meine ganze Ohnmacht, was mich beugt und lähmt bringe ich vor dich. ||: Wandle sie in Stärke, Herr, erbarme dich. :||

3. Mein verlornes Zutraun, meine Ängstlichkeit bringe ich vor dich. ||: Wandle sie in Wärme, Herr, erbarme dich. :||

4. Meine tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit bringe ich vor dich. ||: Wandle sie in Heimat, Herr, erbarme dich. :||

  • Worte aus Psalm 8

Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen,
der du zeigst deine Hoheit am Himmel!
Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge / hast du eine Macht zugerichtet um deiner Feinde willen,
dass du vertilgest den Feind und den Rachgierigen.
Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk,
den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:
was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst,
und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?
Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott,
mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.
Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk,
alles hast du unter seine Füße getan:
Schafe und Rinder allzumal,
dazu auch die wilden Tiere,
die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer
und alles, was die Meere durchzieht.
Herr, unser Herrscher,
wie herrlich ist dein Name in allen Landen!

  • Worte aus dem Buch des Propheten Jeremia 1,4-10

Und des Herrn Wort geschah zu mir: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker.

Ich aber sprach: Ach, Herr Herr, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung.

Der Herr sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der Herr. Und der Herr streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.

  • Gedanken zu Jeremia 1,4-10

Der Prophet Jeremia kennt seine Grenzen. „Ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung“, sagt er. Dass ein Prophet seine Berufung zurückweist, ist ein festes Muster im Alten Testament. Oft hat das mit mangelnder Sprachfähigkeit zu tun, die die zu Berufenen vorschützen. Mose bekommt daraufhin seinen Bruder Aaron zur Seite gestellt, Jesajas Lippen werden mit glühender Kohle gereinigt und Jeremias Mund mit der Hand Gottes berührt. Jeremias Jugend lässt Gott nicht gelten. Gottes Wort gilt allein. Und das legt er Jeremia in den Mund. Diese Geschichte der Berufung Jeremias zeigt, worauf es wirklich dabei ankommt, ein Mensch in Gottes Auftrag zu sein. Und die Frage schließt sich an, ob ich selbst ein Beauftragter Gottes bin?

1. Die Berufung erfolgt nicht aus dem Willen des Berufenen, sondern ruht im Willen Gottes. Von Anfang an steht dieser Weg des Menschen Jeremia im Plan Gottes fest. Anschaulich wird beschrieben, dass Gott ihn schon im Dunkel des Mutterleibes im Auge hatte. Gibt es solche vorgezeichneten Wege Gottes, von denen ich nicht mehr abweichen kann? Manchmal wird davon gesprochen, dass einem Menschen etwas in die Wiege gelegt wurde. Aber das ist schon viel zu menschlich gedacht Das Wort Gottes wird von außen an Jeremia herangetragen. Ich weiß nicht, ob er vor seiner Berufung jemals an einen Dienst in Gottes Namen gedacht hat. Ich glaube aber, dass Gott sich vor allem an Menschen wendet, die gerade nicht daran denken. Sie sind dann innerlich frei, nicht zu ihrem eigenen Vorteil diesen Dienst anzustreben. Der Wille Gottes ist unausweichlich. Ich kann mich ihm nicht entziehen. Auf wessen Geheiß handle ich? Wessen Worte führe ich im Munde? Sind es wirklich die Worte Gottes, oder doch nur meine? Die meiner Eltern, meiner Freunde, oder Worte, die ich irgendwo aus dem Internet oder aus einer Zeitung aufgeschnappt habe. Gegenwärtig scheinen viele Menschen daran zu zweifeln, dass der Großteil der Bevölkerung noch dem eigenen Willen folgt. Bin ich wirklich fremdbestimmt? Und wie kann ich dann wissen, dass ich dem göttlichen Auftrag nachgehe; und nicht einer falschen menschlichen Stimme?

Ein Kriterium ist

2. Die Berufung ist unbequem. Jeremia muss zwei Grenzen überschreiten. Die erste Grenze ist die Grenze seines Volkes. Gott führt den Gottesmann über die Grenzen der gewohnten Umgebung hinaus. Über das hinaus, was ich schon von Geburt an kenne. Wo ich mich auskenne. Gott macht Jeremia zu einem Propheten für die Völker. Da geht der Weg also ins Fremde. Wie werden diese Menschen, die mit diesem Gott nichts zu tun haben und nichts zu tun haben wollen, darauf reagieren? Kein Wunder, dass Jeremia sich zu klein oder zu jung dafür fühlt. Aber er kommt um diese Aufgabe nicht herum. Die zweite Grenze kratzt am Gottesbild. „Ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst du und bauen und pflanzen“, spricht Gott zu Jeremia. Aber ist Gott nicht ein guter Gott, der das Leben schafft? Wie kann er zugleich ein Gott der Zerstörung sein? Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass Gott Jeremia soviel Macht schenkt. Und wie kann ich diesen Gott verkünden, der auch für den Schrecken dieser Welt steht? So habe ich das nicht gelernt. Der Gott meiner Kindheit war stets ein vergebender, sanfter und solidarischer Gott, so wie Christus am Kreuz. Das Zerstören und Verderben passt dazu nicht. Dabei weiß ich, dass es ohne Zerstörung mitunter nicht geht. Bildlich gesprochen sind es die Mauern, die mich fernhalten von meinen Mitmenschen und von Gott, die notwendigerweise zerstört werden müssen. Real sind es Mauern, die tatsächlich von Menschen gebaut und wieder niedergerissen werden. Jeremia überschreitet die Grenze zum Fremden und zum Ungewohnten, Ungelerntem. Er ist darauf nicht vorbereitet, denn

3. Die Berufung hängt nicht an besonderen Fähigkeiten des Berufenen. Sie liegt im Vertrauen auf Gottes Kraft. Jeremia muss darauf vertrauen. Nicht aus eigener Kraft. Gott ist kein Motivationstrainer. Die Kraft Gottes wird erst spürbar im Leid. Wenn die eigenen Kräfte versagen. Dann wird Platz für den Frieden und die Hoffnung Gottes. Dann schwinden die engen Grenzen. Dann werde ich frei für das, was Gott schon im Mutterleib in mir sieht. Selbstverständlich habe ich Angst davor. Gut ist es, dann eine Stimme zu hören, die über die vielen Stimmen der Menschen hinausgeht. Das Leben, das von Gott kommt, wird sichtbar. Manchmal höre ich diese Stimme aus den Mündern der Menschen, die gefangen, krank, einsam und dem Tod nah sind. Dann höre ich sie auch am deutlichsten. Dann höre ich die Stimme Gottes: „Ja, ich will dich wieder gesund machen und deine Wunden heilen, spricht der Herr, weil man dich nennt ‚die Verstoßene‘ und: ‚Zion, nach der niemand fragt‘.

  • Ein Gebet miteinander und füreinander

Gott des Himmels und der Erden,
mache uns frei von dem,
was uns in uns selbst festhält,
reiße die Grenzen nieder,
die uns zurückhalten.
Zeige uns das Leben,
dass du uns gibst
und führe uns weg von dem,
was uns von dir und unserem Nächsten fernhält.

Vater unser im Himmel,
geheiligt werde Dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft
und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.

  • Segen

Es segne und behüte uns der allmächtige und barmherzige
Gott, + Vater, Sohn und Heiliger Geist.
Er bewahre uns vor Unheil und führe uns zum ewigen Leben.
Amen.

(Pfarrer Olaf Wisch)

8. Sonntag nach Trinitatis 2020

  • Eröffnung

Eine Kerze anzünden.  Still ins Kerzenlicht schauen.

Jesus spricht: Ich bin das Licht der Welt.

Die Botschaft gilt. Sie hören, zu Herzen nehmen und mit ihr Hoffnung schöpfen für heute und viele Tage. Dazu helfe uns Gott.

  • Lied: Morgelich leuchtet (EG 455)

Hier kann das Lied angehört werden: http://www.eingesungen.de/player.php?track=940&buch=21#player

Morgenlicht leuchtet, rein wie am Anfang.
Frühlied der Amsel, Schöpferlob klingt.
Dank für die Lieder, Dank für den Morgen,
Dank für das Wort, dem beides entspringt.

Sanft fallen Tropfen, sonnendurchleuchtet.
So lag auf erstem Gras erster Tau.
Dank für die Spuren Gottes im Garten,
grünende Frische, vollkommnes Blau.

Mein ist die Sonne, mein ist der Morgen,
Glanz, der zu mir aus Eden aufbricht!
Dank überschwänglich, Dank Gott am Morgen!
Wiedererschaffen grüßt uns sein Licht.

  • Worte aus Psalm 48

Groß ist der HERR und hoch zu rühmen
in der Stadt unseres Gottes, auf seinem heiligen Berge.
Schön ragt empor sein Gipfel,
daran freut sich die ganze Welt.
Wie wir’s gehört haben, so sehen wir’s
an der Stadt des HERRN Zebaoth,
an der Stadt unseres Gottes:
Gott erhält sie ewiglich.
Gott, wir gedenken deiner Güte in deinem Tempel.
Gott, wie dein Name , so ist auch dein Ruhm
bis an der Welt Enden.
Deine Rechte ist voll Gerechtigkeit.
Es freue sich der Berg Zion,
und die Töchter Juda seien fröhlich
um deiner Rechte willen.
Ziehet um den Zion herum und umschreitet ihn,
zählt seine Türme;
habt gut acht auf seine Mauern,
durchwandelt seine Paläste,
das ihr den Nachkommen davon erzählt:
Dieser ist Gott, unser Gott für immer und ewig.
Er ist’s, der uns führet.

  • Worte aus dem Johannesevangelium  9, 1 – 7

Jesus ging vorüber
und sah einen Menschen, der blind geboren war.
Und seine Jünger fragten ihn und sprachen:
Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern,
dass er blind geboren ist?
Jesus antwortete:
Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern,
sondern es sollen die Werke Gottes
offenbar werden an ihm.
Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat,
solange es Tag ist;
es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.
Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.
Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde,
machte daraus einen Brei
und strich den Brei auf die Augen des Blinden
und sprach zu ihm:
Geh zu dem Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt –
und wasche dich!
Da ging er hin und wusch sich
und kam sehend wieder.

  • Gedanken zum Text

Nie konnte er sehen. Ein großer Teil des Lebens und seiner Schönheit blieb ihm verschlossen, verschlossen von Geburt an.

Die anderen Sinne lernen, manche Funktion der Augen zu übernehmen, aber vollständig ersetzen können sie das Augenlicht nicht. Wirklich vorstellen können wir Sehenden uns das nicht, wie das sein muss, die Welt und alles zu sehen – zum ersten Mal.

Worte bleiben dahinter zurück: Er war immer im Dunkeln, er wusste nie, was Dunkel ist und was Licht – und nun ist er im Licht. Ein blinder Mensch kann sehen.
Wohin wird er sehen? In den Himmel? Auf die Menschen um ihn herum? Auf die Bäume, die Häuser? Auf den Ort , wo er saß? Es ist so viel und es ist so wunderbar.

Es ist ein Wunder – es öffnet unsere Augen für ein Wunder, für unser Menschenleben, das ein Wunder ist – und in dem Wunderbares geschieht.

(Lothar Zenetti in einem Gedicht:

Ein Leben währt nur ein paar Jahre, ein Leben ist wenig und viel. Wir kommen und gehen, wir säen und ernten, ein menschliches Leben ist viel.)

Es ist ein alltägliches Wunder und doch nicht weniger als ein Wunder, wenn es Tag wird, wenn die Sonne aufgeht und die Dunkelheit weicht – und wir leben.

Ein Tag zwischen Morgen und Abend, ein Tag, das ist wenig und viel. Er ist uns geschenkt und gehört uns für immer, ein Tag, den wir leben ist viel.

Es ist ein Wunder. Jedesmal, wenn einem Menschen die Augen aufgehen. Wenn wir beginnen klar zu sehen. Wenn uns ein Licht aufgeht und wir in einem neuen Licht das Leben sehen, uns selbst Und GOTT.

Es gibt nicht nur die Blindheit der Augen. Es gibt auch die Blindheit des Herzens. Eine Blindheit des Nicht-Verstehens.

Auch um diese Blindheit geht es in dieser Geschichte. Auch sie bedarf der Heilung. Und es ist ein Wunder, wenn sie geschieht. –  Wie wird man sehend?

„Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war.

So beginnt es –  mit einem, der sieht.

Viele andere tun das auch, die wie Jesus an dem Mann vorüber gehen. Sie sehen ihn und sehen ihn doch nicht. Sie schauen hin und schauen vorbei. Manche geben ihm Geld, andere gehen weiter auf ihrem Weg.

Wer hat ihn gesehen? Hat sein Gesicht gesehen?

Auch Jesus geht vorüber, auch er hat seinen Weg. So ist das nicht. – ABER! – Sein Weg führt nicht an den Menschen vorbei.

Er führt zu ihnen hin. Er übersieht den Blinden nicht. Er sieht ihn. Er sieht ihn an. Er nimmt ihn wahr.

Der Evangelist ist an dieser Stelle ganz präzise. Er sagt nicht:

„Er sieht einen Blinden oder er sieht einen Bettler“.

Da sitzt ein Mensch, ein Kind von Eltern, mit seiner Geschichte, mit Gedanken und Gefühlen, ein Geschöpf Gottes – wie alle anderen auch, die an ihm vorübergehen und ohne die Behinderung leben, mit der er leben muss.

„Ein Mensch, ach, was zählt denn schon einer, ein Mensch, das ist wenig und viel. Genug für die Liebe, genug für ein Leben, ein Mensch, der mich liebt, das ist viel.“

Die Jünger sehen ihn auch. Aber auch sie gehören zu denen, die ihn nicht ansehen. Ihre Worte verraten es:

Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?“

Das klingt als ob sie genau hinsehen wollen. Aber ihr Interesse gilt nicht dem Menschen.

Wer hat Schuld? Die alte Frage!

Es ist ja auch schwer einen Menschen anzusehen, der von Geburt an blind ist.

Ein schreckliches Schicksal. Hilflos stelle ich mir die Jünger vor. Hilflos und verunsichert möchten sie nur noch, dass ihr Weltbild – ihr Gottesbild nicht aus den Fugen gerät.

Wo Unglück ist, muss auch Schuld sein.

Einer muss schuld sein. Wen kann man verantwortlich machen?

Wenn das klar ist, dann ist die Welt – scheinbar –  in Ordnung.

Es ist sinnvoll nach Gründen für Katastrophen zu suchen, die Ursachen von Krankheiten zu ergründen, um sie heilen zu können.

Wir alle wissen, dass nicht jede Krankheit nur Schicksal ist.

Über Schuld nachzudenken, sie aufzudecken und zu benennen, gehört zu unserer Würde als Menschen, die Verantwortung für sich und ihr Tun übernehmen.

„Wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern?“

Haben sie nicht recht, so zu fragen?

Warum behauptet Jesus, dass es die ganz und gar falsche Frage sei?

Weil sich genau betrachtet ein grausames Menschenbild hinter der klugen theologischen Frage verbirgt. Mit solch einer Frage hält man sich Menschen vom Leib.

„Selber Schuld! Es gibt eben auch solche, denen nicht zu helfen ist. Hilf dir selbst!“

Wenn man nur alles richtig macht, wird man nicht krank.

Diese einfache Weltsicht ist zu einfach. Sie macht blind für die Menschen und ihre Geschichte. Sie macht gefühllos gegenüber ihrer Not und wird einem Menschen niemals gerecht.

Und sie macht blind für Gott.

Sie gibt ihm einen Platz im eigenen Weltbild als Garant dafür, dass auf jede Schuld unverzüglich die Strafe folgt.

Aber Gott lässt sich nicht einordnen.

Jesus öffnet den Jüngern die Augen: „Es hat keiner gesündigt“.

Und hier entsteht der Raum für die Begegnung mit dem lebendigen Gott.

„Die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden.“ Gerade angesichts dieses Menschen, dessen Leben von Anfang an so festgelegt zu sein scheint.

Gerade an diesem soll etwas sichtbar werden. Gott hat etwas vor mit diesem Menschen.

Das ist ein Wort der Befreiung. Es öffnet den Blick für die Möglichkeiten Gottes.

Seht nicht nur das, was vor Augen ist! Seht nicht nur das, was war.

Bleibt nicht stecken in der Frage nach dem Warum!

Seht, was werden kann! Seht! Und dann tut, was ihr tun könnt.

Das Nahe liegende, was vor Augen ist.

Für Jesus besteht es darin, dass er einen Brei aus Speichel und Erde macht und ihn auf die Augen des Blinden streicht. Aber er selbst muss zu dem Teich gehen und den Brei abwaschen.

„Die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden“.

Jesus öffnet dem Blinden eine neue Möglichkeit für sein Leben, er selbst muss sie ergreifen. Es ist sein Leben.

Jesus vereinnahmt ihn nicht, macht ihn nicht einfach zum Objekt seiner Hilfe.

Er beteiligt ihn an dem Schritt in eine neue Möglichkeit zu leben.

Indem er geht, vertraut er – und lebt schon im Licht des Vertrauens, bevor seine Augen sehen können.

Öffnet es auch uns die Augen?

Dann könnten wir auf andere Menschen zugehen, ohne immer schon zu fragen, wer schuld ist, und ohne zu wissen, was gut für sie ist.

Dann könnten wir uns damit zufrieden geben, Menschen zu helfen, indem wir ihnen Möglichkeiten für ihr Leben vor Augen halten, und aushalten, dass sie sie ergreifen oder nicht ergreifen. ODER nicht gleich, weil die Zeit noch nicht reif ist, dafür.

„Die Werke Gottes sollen offenbar werden“.  

Gott weiß die Zeit dafür.

Der Blinde ergreift die Möglichkeit. „Er kam sehend wieder.“

Ein Wunder vor unseren Augen.

Nicht nur das Augenlicht ist ihm geschenkt. Er ist in umfassender Weise sehend geworden.

Auch das Licht des Vertrauens ist ihm geschenkt.

Er sieht sein Leben nun in einem neuen Licht. Vielleicht sogar die Jahre seiner Blindheit. Aber davon kann man nur ganz vorsichtig reden. Allzu schnell wird daraus wieder eine allgemeine Wahrheit, als ob Gott uns Leiden auferlegen würde, damit dann sein verwandelndes Tun offenbar würde.

Dann wären wir blind für Gott.

Aber manchmal geschieht es, dass ein Mensch in der Rückschau sein Leben im Licht des Glaubens neu sehen kann, auch die Zeiten des Leidens.

Dafür öffnet uns Jesus die Augen. Gott hat noch etwas mit uns vor. Es muss nicht alles bleiben, wie es ist. Und am Ende öffnet er unseren Blick und lässt uns in seiner Auferstehung hinausschauen noch über unseren Tod.

Ja: Die Werke Gottes sollen an uns offenbar werden.

„Was sein wird, das ist noch verborgen, und keiner kann heut schon verstehn, doch Einer öffnet uns die Augen, dass wir sein Heil schon kommen sehen.“

  • Gebet

Herr Jesus Christus, du Licht der Welt,
du siehst, wie oft wir blind sind, für das, was um uns geschieht.
Lass uns sehen, wenn Kinder erfahren, wenn sie vernachlässigt werden.
Gib uns den Mut nach Hilfe zu suchen.
Lass uns sehen, wenn alte Menschen einsam in ihrer Wohnung sind
Und auf einen Besuch und Gespräch warten.
Lass uns darauf achten, dass wir die Maßnahmen
zur Verhinderung der Verbreitung der Corona-Pandemie
und auch die damit verbundenen Einschränkungen des Alltags
ernst nehmen und andere nicht gefährden.
Lass uns sehen, dass Hass und Gewalt gegen Menschen
anderen Glaubens und anderer Herkunft bei uns keine Macht gewinnen.
Hilf uns frei unsere Meinung zu äußern,
wenn abfällige oder antisemitische Bemerkungen fallen.
Alles, auch das ungesagte nehmen wir auf in das Gebet,
dass du uns gelehrt hast.
Vater unser im Himmel.
Geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsre Schuld,
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft
und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

  • Segen

Gott sei uns gnädig und segne uns,
er lasse uns sein Antlitz leuchten.
Es segne uns Gott, und alle Welt fürchte ihn!

(Lektorin Gudrun Naumann)